Älterer Mann macht sich Notizen in einem Buch. Im Hintergrund steht ein Laptop, auf dem eine Videosprechstunde läuft.
  1. Herr Dr. Kersting – Wer sind Sie, warum befassen Sie sich mit Telemedizin und welche Themen beschäftigen Sie?
  2. Was bedeutet Psychosomatik für Sie?
  3. Wo hat eine Sprechstunde ihre Grenzen, wenn sie telemedizinisch stattfindet?
Älterer Mann macht sich Notizen in einem Buch. Im Hintergrund steht ein Laptop, auf dem eine Videosprechstunde läuft.

Herr Dr. Kersting – Wer sind Sie, warum befassen Sie sich mit Telemedizin und welche Themen beschäftigen Sie?

Dr. Günter Kersting: Ich bin als Facharzt für Psychosomatik und Psychotherapie in eigener Kassenarztpraxis niedergelassen. Ich behandle überwiegend PatientInnen mit Depression, Burn-Out und einer Selbstwertproblematik, aber auch mit Ängsten, Zwängen und sogenannten Somatisierungsstörungen. Im Rahmen der Pandemie habe ich sehr positive Erfahrungen mit der Online-Therapie gemacht und möchte diese weiterhin meinen PatientInnen anbieten.

Bis zu 20 Prozent aller Menschen haben in ihrem Leben eine depressive Phase. Das heißt, fast allen Familien wird irgendwann bewusst, welche Auswirkungen eine Depression auf das Leben eines Menschen haben kann. Jedoch bekommen nur die Hälfte der Menschen mit einer behandlungsbedürftigen Depression ärztliche oder therapeutische Hilfe.

Themen, die mich außerdem beschäftigen, zu denen ich auch eine Vielzahl an Vorträgen gehalten habe, sind Ressourcen, Salutogenese, Motivation und Flow.

Ressourcen: Wie finde ich meinen Zugang zu meinen eigenen, ganz persönlichen Kraftquellen? Wirksamkeitsstudien für Psychotherapie zeigen, dass der Erfolg einer Therapie zu mindestens 30 Prozent davon abhängt, ob es in der Therapie gelingt, die Ressourcen des Patienten zu aktivieren.

Salutogenese: Was hält mich gesund und wie kann ich diese Faktoren in meinem Leben häufiger initiieren?

Flow: Wie bin ich mit den Dingen, die ich tue, verbunden und im Fluss? Wie entsteht Flow und was bewirken häufige Flow-Momente? Diese Themen könnte ich mir auch gut in einer Online-Sprechstunde vorstellen.

Was bedeutet Psychosomatik für Sie?

Dr. Günter Kersting: Für mich ist es der wiedergefundene, ganzheitliche Ansatz, Menschen in ihrer Gesamtheit zu betrachten und zu behandeln. Ich bin der festen Überzeugung, dass sich körperliches und seelisches Befinden nicht voneinander trennen lassen. Nehmen wir das Beispiel der Angst. Angst als seelisches Symptom ist immer auch körperlich. Das gleiche gilt bei körperlichen Schmerzen, hier haben Sie auch immer einen seelischen Part. Ohne seelische Beteiligung können Sie keine Schmerzen haben. Diese Ansicht lässt sich auf alle Situationen übertragen. Daraus abgeleitet gibt es ein bio-psycho-soziales Modell.

Ich sehe, wie Fälle psychosomatischer Leiden immer weiter zunehmen. Auch weil die Gesellschaft bereitwilliger geworden ist, diese als Leiden anzuerkennen. In einer schon älteren Studie wurden die häufigsten Beschwerden untersucht, mit denen Menschen zum Hausarzt gehen. Das Ergebnis war, dass Hausärzte bei den 10 häufigsten Symptomen in weniger als 50 Prozent der Fälle eine organische Ursache finden. Das zeigt, wie sehr seelischen Belastungen das Wohlbefinden bis hin zu körperlichen Symptomen beeinflussen.

In der naturwissenschaftlichen Medizin wird vor allem sichergestellt, dass die Menschen länger und mit weniger Beschwerden leben und ich möchte diese wunderbaren Fortschritte niemals missen. Jedoch sind das seelische Empfinden und zum Teil die Fragen der Lebensqualität aus dem Fokus gerückt. Psychosomatik verbindet diese beiden Punkte miteinander. Wenn jemand unter Rückenschmerzen leidet, lohnt es sich auch zu fragen: Welche seelische Belastung tragen Sie mit sich herum? Fällt die seelische Belastung weg oder kann durch Psychotherapie anders gehandhabt werden, wird der Patient oft beschwerdefrei.

Wo hat eine Sprechstunde ihre Grenzen, wenn sie telemedizinisch stattfindet?

Dr. Günter Kersting: Aufgrund meiner bisherigen Erfahrungen würde ich PatientInnen mit latenter oder bedeutsamer Suizidalität nicht telemedizinisch behandeln wollen. Die medizinisch definierte “schwere Depression” würde ich in den meisten Fällen ebenso nicht online behandeln, weil der persönliche Kontakt nicht so klar ist, wie in der Praxis. Bei der telemedizinischen Behandlung von Sucht- und Borderline-PatientInnen sehe ich ebenfalls Schwierigkeiten und würde wenigstens zu Beginn der Therapie eine Konsultation in der Praxis bevorzugen.

Bei den meisten anderen Erkrankungen könnte die Telemedizin als niedrigschwelliges Angebot sogar Vorteile haben, insbesondere bei AngstpatientInnen oder bei Menschen mit einer sozialen Phobie. Auch Menschen, die psychotherapeutische Praxen wegen der Entfernung zur nächsten Praxis (z. B. auf Inseln oder in abgelegenen Orten im Gebirge) oder einer schweren körperlichen Beeinträchtigung schlecht oder gar nicht erreichen können, werden von einem telemedizinischen Angebot profitieren.

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